Der Seeweg nach Indien

Vor langer Zeit fiel jemandem in Ägypten auf, dass Stöcke mancherorts auch zur Sonnenwende Schatten werfen, obwohl die Bücher Anderes sagten; eineinhalb Jahrtausende später führte diese Merkwürdigkeit dazu dass Columbus über Amerika stolperte.

[Madagascar’s lemurs] sat there for millions and millions of years in glorious isolation, while in the rest of the world a new creature emerged that was [..] incredibly interested in all the things you could do with twigs. — Douglas Adams

Wir vertrauen gerne auf das Etablierte und halten es für offensichtlich. Wir vertrauen dicken Büchern und vergessen dabei das Denken und Fragen. Es reicht aber nicht, dass richtige Dinge irgendwo geschrieben stehen, sie müssen auch gelesen, verstanden und weitererzählt werden.

Der alexandrinische Bibliothekar Eratosthenes ist hier ein viel zitiertes Vorbild: Er lass nicht nur den an sich wenig spannenden Bericht, dass die Sonne im süd-ägyptischen Syene am Mittag der Sommersonnwende senkrecht steht, ihm fiel auch auf, dass dies in Alexandria nicht der Fall war. Aus den unterschiedlich langen Schatten, die Stöcke zur selben Zeit in den beiden Städten warfen, konnte er den Erdumfang berechnen. [1]

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WernerGminder / photocase.com

Obwohl Eratosthenes’ Beobachtung für jeden offensichtlich ist, der mit einem Stock hantieren kann, geriet seine Schlussfolgerung viele Jahrhundert lang wieder in Vergessenheit. Im Mittelalter war die Welt offensichtlich eine Scheibe; heute ist sie offensichtlich eine Kugel, die um die Sonne kreist. Dabei ist weder das eine noch das andere wirklich offensichtlich, also unmittelbar einsehbar. Die Aufnahmen der Erde aus dem Weltall sind zwar beeindruckend, doch angesichts von Computer Generated Imagery weniger überzeugend als der globale Flugverkehr, der die Kugelgestalt der Erde für viele Menschen unmittelbar erfahrbar macht. Was aber wenn interkontinentale Reisen wieder zeitraubend, unbequem und teuer werden? Die Mondlandung wird schon heute angezweifelt; in ein paar Jahrzehnten könnte sie ebenso umstritten sein, wie im 19. Jahrhundert die <a href=“https://de.wikipedia.org/wiki/Troja"Existenz >Trojas. Würde mit dem Verschwinden allgemeiner weiter Reisen auch die Erde wieder eine kleine Scheibe, die gerade mal bis zum Horizont reicht? Werden wir unsere Internet-Bekanntschaften auf anderen Kontinenten für Ausgeburten der Künstlichen Intelligenz halten, so wie wir die Überlieferung der Antike für bloße Mythen gehalten haben? Der gedankliche Abstand zwischen Eratosthenes (3. Jhdt. BCE) und Kopernikus (16. Jhdt. CE) ist klein. Trotzdem liegen zwischen den beiden fast zweitausend Jahre während derer die Erde eine Scheibe war.

Wenig in der Welt ist für uns unmittelbar einsichtig. Wir müssen nachdenken und (hinter-)fragen, um uns die Welt zu erschließen. Das gilt in der IT-Branche ganz besonders: Warum funktioniert mein Code? Was müsste ein Angreifer tun, damit mein Code nicht mehr funktioniert? Wie kann ich verhindern, dass jemand genau das tut? Welche Alternativen habe ich, um die gewünschte Funktionalität zu implementieren?

Solche Fragen sind anstrengend und scheinbar ohne direkten wirtschaftlichen Wert. Hauptsache der Kunde nimmt die Software ab! Es ist einfacher, einem durch Autorität getragenen Argument zu vertrauen, als die Argumentation selbst nachzuvollziehen und zu hinterfragen. Des hamma oiwei scho so gmacht! Es ist einfacher, einem dicken Standard zu vertrauen, als eine wirklich gute Lösung zu suchen und mit ihr einen Versuch zu wagen. Nobody ever got fired for buying IBM equipment. Doch die eigene Anschauung trägt immer nur bis zum eigenen Horizont; erst unsere Neugier führt uns darüber hinaus.

Die bloße Erfahrung, dass ein Stück Software funktioniert, bringt einen nicht weiter; das Verständnis dafür, warum die Software so (und nicht anders) funktioniert kann einem neue Wege eröffnen. Ein “Es geht doch!” kann mehr Schaden anrichten als ein “Warum?”. Vor allem ist nicht alles richtig, was wortreich beschrieben wird; und nicht alles was augenscheinlich wahr ist, hält einer genauen Prüfung Stand. Oft bringen uns gerade die Fragen die scheinbar ohne direkten wirtschaftlichen Wert sind (später) weiter.

“Um solchen Firlefanz habe ich mich nie gekümmert”, grollte der Meerkönig unwirsch. “Das Licht war eben einfach da, und jetzt ist es plötzlich nicht mehr da.” — Michael Ende

Seit der Antike bezog Europa Waren, die über indische und arabische Zwischenhändler aus Asien gebracht wurden. Sie waren teuer und ihr Nachschub aufgrund von Epidemien oder politische Wirrungen entlang des Handelswegs immer wieder unterbrochen. Und genauso, wie Strom und Internet heutzutage einfach aus der Steckdose kommen, ohne dass wir ihren Ursprung erklären können, kamen diese Waren irgendwie über Land und über See, ohne dass die Europäer viel über ihre Herkunft wussten. Samarkand und Karakorum, Cathay und Cipangu, mystische Orte im fernen Osten, dort wo auch das Paradies lag. Das Wissen der Antike war größtenteils in den Badeanstalten verheizt worden; der karge Rest lag vergessen in den Klöstern. Wozu Bücher über die Welt, wenn alles Streben auf das Jenseits gerichtet sein sollte? Der ferne Osten war nichts, was die gelehrten Scholastiker interessiert hätte; und auch die Descriptio insularum aquilonis haben nur wenige gelesen.

Just remember that you’re standing on a planet that’s evolving

And revolving at nine hundred miles an hour. — Eric Idle

Seit dem 14. Jahrhundert aber fand man mehr und mehr Geschmack am Diesseits; man wollte über den von der Kirche verordneten Tellerrand hinaus blicken. Man hatte Geld und wollte es ausgeben, bevor man trotz gottesfürchtigen Lebens von der Pest dahin gerafft wurde. Gewürze und Seide aus Asien standen hoch im Kurs. Auf einmal spielte es wieder ein Rolle, ob Stöcke überall den gleichen Schatten werfen und die Erde eine flache Scheibe oder eine runde Kugel ist. Die Bruchstücke der antiken Schriften wurden aus den Klöstern hervor geholt; man las, was als arabische Übersetzung zurück nach Europa gelangte; und man verschlang die Reiseberichte der Händler, die sich selbst auf den Landweg nach China gewagt hatten. Plötzlich war aus dem, was man von der Spätantike bis zur Scholastik für offensichtlich nutzlos hielt, etwas offensichtlich Wertvolles geworden.

Seeweg nach Indien via Afrika 12.000 Seemeilen (Vasco Da Gama’s Odyssee) [2], über den Atlantik 2.300 Meilen (Christopher Columbus’ Behauptung) [3], Entdeckung Amerikas, unbezahlbar.

Der ferne Osten wurde allmählich wieder zu einem realen Ort, an den man reisen konnte. Unermessliche Reichtümer winkten demjenigen der bereit war, über die eigene Anschauung hinaus zu gehen und die asiatischen Importwaren direkt an der Quelle zu besorgen. Dabei gab es zwei prinzipielle Wege: Unten herum um Afrika, durch die vermeintlich alles versengenden Tropen, oder hinten herum, im Vertrauen darauf, dass die Erde doch keine Scheibe ist. Der Marktführer Portugal tastete sich langsam an das Unten-Herum heran, sein Konkurrent Spanien entschied sich für das innovative, Kosten sparende Hinten-Herum. Dass sich Columbus dabei die Welt schön gerechnet hatte und Cipangu, das heutige Japan, vor die europäische Westküste verschoben hatte, spielt im Rückblick kaum eine Rolle. Wen interessiert schon, was hätte passieren können, wenn offensichtlich alles gut gegangen ist?

Notre tête est ronde pour permettre à la pensée de changer de direction. — Francis Picabia

Ich habe den Eindruck, die IT-Industrie leidet ein bisschen unter beidem:

1.) dem Glauben an dicke Katechismen und Scholastiker, die sich mehr mit der Frage nach der Zahl der Engel auf einer Nadelspitze befassen, als sich zu fragen wo der Pfeffer wächst, und

2.) dem Wunschdenken, dass es hinten herum immer kürzer ist, dass es auch ein Haufen Hasardeure mit wenig nautischer Erfahrung in einer Nussschale bis Indien schaffen kann.

Die Scholastiker versuchen dann monatelang, Social Media mit den Bedenken der Rechtsabteilung zu verheiraten; die Freelancer-Hassadeure kopieren ein paar zigtausend Zeilen PHP zusammen und hoffen, dass das Projekt schon irgendwie im Zeit- und Budgetrahmen bleibt. Ohne eigene Anschauung und kritisches Nachfragen aber sind dicke Gutachten und Standards wertlos; umgekehrt wird nicht jedes unterfinanzierte IT-Projekt von einem neu entdeckten Kontinent gerettet. Die meisten Projekte versinken auf hoher See, ohne dass man je wieder von ihnen hört.

Columbus hatte Glück. Seine Schiffe hätten die erforderlichen 10.000 Seemeilen von Spanien nach Ostasien nicht geschafft; seine Mannschaft wäre unterwegs verdurstet und verhungert. Nur Amerika rettete ihn. Aber nicht jeder Autodidakt aus Genua kann zur See fahren; und nicht jeder Harvard-Abbrecher kann erfolgreich Büro-Software oder Web-Anwendungen vermarkten. Dennoch denken die meisten, dass es bei ihrem IT-Projekt (diesmal) schon irgendwie klappen wird, ohne Plan und Budget das rettende Ufer zu erreichen.

Am Ende erlag übrigens auch Vasco Da Gama dem Zeit- und Budgetdruck: Ohne Lotsen und gegen den Rat der erfahrenen arabischen Seeleute segelte er in den Monsun. Er brauchte drei statt einen Monat für die Überfahrt und verlor einen Großteil seiner Mannschaft, Widrigkeiten die wir offensichtlich auch heute noch bei Großprojekten für unvermeidlich halten. Dabei hilft es, kritisch zu fragen, auch wenn es nur ein scheinbar harmloser Schatten eines kleinen Stockes in Alexandria ist.

Die IT:Agenten sind erfahrene Lotsen auf den sieben Weltmeeren der Internet-Software-Entwicklung. Am besten fragen Sie uns, bevor Sie los segeln; aber auch wenn Ihr Projekt in stürmischer See unterzugehen droht, können wir vielleicht noch etwas retten. Fragen Sie uns einfach!