Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten. — Walter Ulbricht, 15. Juni 1961
ACTA, das Anti-Counterfeit Trade Agreement, ist in aller Munde. Es ist im Wesentlichen – so sagt es der Titel – ein Handelsabkommen, das sich gegen gefälschte Markenware richtet. Es enthält aber auch Passagen die sich gegen Verletzungen des Copyrights richten. Gerade diese Passagen sind zurzeit heftig umstritten.
Einen Aspekt dieses Streits würde ich gerne herausgreifen, weil er so wunderschön eines der Probleme illustriert, die sich in regelbasierten Systemen ergeben, nämlich die Frage: Was passiert, wenn ich eine Regel in diesem großen Regelhaufen ändere? Diese Frage ist nicht nur für ein Staatswesen wichtig, sondern in wachsendem Maße auch für IT Systeme.
Bei ACTA geht es um die Frage: Müssen Datenübertragungen im Internet gefiltert werden, um Verstöße gegen das Copyright zu unterbinden? ACTA Gegner sagen, ACTA würde genau dazu führen. ACTA Befürworter argumentieren, der Vertrag würde so etwas nicht verlangen. Ja was denn nun?
So ganz klar ist die Sache nicht. So heißt es in einer Fußnote zu Artikel 27 Absatz 2:
Dies umfasst beispielsweise [..] eine Regelung zur Beschränkung der Haftung von Internet-Diensteanbietern [..] bei gleichzeitiger Wahrung der rechtmäßigen Interessen der Rechteinhaber.
Ein Staat kann also Internet-Dienstleister von Schadenersatzansprüchen der Copyright-Inhaber (teilweise) befreien. Somit gibt es offenbar zunächst einen Anspruch auf Schadenersatz, wenn eine Dienstleistung im Internet dazu führt, dass ein digitales Werk (in einer Weise) kopiert wird, die der Inhaber des Copyrights nicht erlaubt hat. Wenn Oma Ihrem Enkel also beispielsweise per Voice-Over-IP Harry-Potter vorliest, könnte der Bloomsbury-Verlag die Telefongesellschaft auf Schadenersatz verklagen, weil Oma selbst liest und nicht das autorisierte Hörbuch nutzt. Grimm’s Märchen wären hingegen in Ordnung, weil man zu Zeiten der Gebrüder Grimm noch kein Copyright kannte.
Will also eine Telefongesellschaft derartige Schadenersatzansprüche vermeiden, muss sie den Voice-Over-IP-Verkehr überwachen und gegebenenfalls sperren – Deep-Packet-Inspection nennt man so etwas. Eine Technik die andernorts im Kampf gegen Terroristen und Dissidenten bereits erfolgreich eingesetzt wird, beispielsweise in China, dessen Filtersystem man bezeichnenderweise oft als “Great Firewall of China” betitelt.
Aber kommen wir zurück zum eigentlichen Thema: Führt ACTA dazu in den Unterzeichnerstaaten ebensolche Mauern im Internet zu errichten? “Ja”, meinen die ACTA Gegner. “Aber es steht doch nicht im Vertrag”, sagen die ACTA Befürworter. Der Knackpunkt ist aber, dass Regeln Auswirkungen haben, die nicht auf den ersten Blick in diesen Regeln beschrieben sind. Auch wenn dieses Phänomen – man nennt es Emergenz – allgegenwärtig ist, so erscheint es vielen doch rätselhaft, als wäre Emergenz ein seltsamer Zauber der Dinge bewirkt, die man nicht beabsichtigt hat.
Wir wünschen uns offenbar Regeln, hinter denen keine Emergenz lauert. Denn im Allgemeinen ist es sehr schwierig, zu erkennen welche emergenten Folgen ein Satz von Regeln haben wird. Emergenz ist eben auch mit Komplexität verbunden. Aber leider können wir Komplexität und somit auch emergente Phänomene nicht immer vermeiden. Das macht einem das Leben in der IT oft besonders schwer. Zwar wird man Programmierfehler im Allgemeinen nicht als Emergenz abtun können. Oft sind aber emergente Phänomene an den besonders schwer zu findenden Fehlern beteiligt. Die zunehmende Vernetzung von verschiedenen Komponenten im Internet bzw. der Cloud – wie das ja jetzt modern heißt – befördert diese Probleme noch.
Der umgekehrte Ansatz, also Emergenz als nützlicher Mechanismus in technischen Systemen, wird in der IT-Branche noch vergleichsweise selten praktisch verwendet. Nur in der akademischen Welt spielt er bereits eine Rolle, vor allem in den so genannten Schwarmsystemen, wo eine Vielzahl von Komponenten aufgrund von Regeln zusammenwirkt. Dort ist Emergenz äußerst nützlich, um die Systeme robust gegenüber Ausfällen einzelner Komponenten zu machen.
Corruptissima re publica plurimae leges. — Tacitus, Annalen
Im Staatswesen hingegen ist dieser Ansatz wesentlich vertrauter, vielleicht weil man damit Dinge erreichen kann, die man gar nicht so direkt ins Gesetz schreiben (lassen) muss. Der Begriff “besteuern” teilt sich nicht von ungefähr seine Herkunft mit dem Begriff “steuern”.
Und so verwundert es nicht, dass auch bei ACTA die Befürworter argumentieren, dass erst ein staatliches Schutzrecht auf geistiges Eigentum die Schaffung dieser Güter ermöglicht. Kultur entsteht in dieser Argumentation also erst, wenn die Dichter und Denker die Früchte ihres Schaffens staatlich geschützt in bare Münze verwandeln können. So als befeuere nur der Markt und nicht Ruhm, Ehre und unmittelbare Förderung Wissenschaft und Kultur.
Leider ist die Vorhersage emergenter Effekte aber definitionsgemäß schwer, so dass wir die Empirie, also das Beobachten des Tatsächlichen, nicht vernachlässigen sollten. Denn so ganz kann das Argument der ACTA-Befürworter nicht stimmen, wenn man bedenkt dass das Copyright in Deutschland erst 1837 eingeführt wurde, also in dem Jahr als bereits die dritte Auflage der Grimm’schen Märchen erschien und viele Leuchttürme der deutschen Kultur schon lange tot waren.