Simulation statt Massenpanik

Florian Sesser hat vier Jahre als Entwickler bei den IT:Agenten gearbeitet. Heute leitet er zusammen mit Dr. Angelika Kneidl das Münchner Start-up accu:rate. Ein Gespräch über simulierte Personen, das Love-Parade-Unglück und die Frage, was die IT dazu beitragen kann, im Ernstfall Menschen zu retten.

_ _Was macht accu:rate genau?

Wir simulieren die Bewegung von Fußgängerströmen. Genutzt wird das unter anderem von Architekten, die vorab testen wollen, wie gut Wege in einem Stadion, Flughafen oder Bahnhof funktionieren oder wie lange eine Evakuierung dauert. Es geht immer darum, dass hunderte oder tausende Menschen von Punkt A nach Punkt B müssen. Je größer das Gebäude, je weitläufiger das Gelände ist, desto schlechter ist das überschaubar. Da kommen wir mit der Software ins Spiel, an der wir gerade arbeiten.

Simulation der Hanse Sail (accu:rate)

Wie seid ihr auf die Idee gekommen?

Bisher war die Simulation von Personenströmen vor allem ein wissenschaftliches Thema. Während der Promotionszeit von Angelika Kneidl 2010 kam es zum Love-Parade-Unglück in Duisburg. Da fiel ihre Entscheidung, dass diese Technik den Leuten zugänglich und nutzbar gemacht werden muss: Eine gute Simulation hätte gezeigt, dass die Wegeführung in Duisburg nicht funktioniert. So kommt es, dass wir Fußgänger simulieren. Vieles andere wird schließlich auch simuliert, etwa die Statik von Brücken oder Dächern, warum also nicht die Menschen, um die es doch eigentlich immer geht?

Wer nutzt in der Praxis eure Simulationen?

Beispielsweise die „Hanse Sail“ im Rostocker Stadthafen, die im August stattgefunden hat. Das ist eines der größten maritimen Feste, ein bisschen wie die Wiesn aber halt am Meer, mit ca. einer Million Besuchern. Am Meer kann das Wetter extrem schnell umschlagen, wenn der Wetterdienst meldet, in einer halben Stunden habt ihr Windstärke acht, muss evakuiert werden. Der Betreiber muss wissen, wie lange es dauert, bis die Halbinsel, auf der das Fest stattfindet, leer ist. accu:rate hat mit der dortigen Sicherheitsfirma ABS kooperiert. Wir bekamen den Plan mit allen Buden und Aufbauten. Auf Google Earth gab es zufällig ein Luftbild der HanseSail von Vorjahr, so dass wir zusätzlich den Ist-Zustand hatten. Beim Vergleich kam etwas Spannendes heraus: Im Luftbild war ein schmaler Weg, eine Abkürzung am Wasser versperrt, der eigentlich als Rettungsweg eingeplant war. Unsere Notfall-Simulation ergab dann aber, dass sich genau an diesem kleinen Rettungsweg ein massiver Rückstau bildet. Wir haben also in einer zweiten Simulation diesen Weg entfernt und die Evakuierung ging um ein Drittel schneller, nur noch 10 anstatt 15 Minuten!

Hätte man sich das auch ohne Simulation denken können?

Laut der Versammlungsstättenverordnung heißt es: jeder Meter Fluchtwegs-Breite hilft. Darauf sind alle Entfluchtungs-Konzepte ausgerichtet – und das ist wirklich ein Problem. Bei Stadtfesten gibt es oft kleine Stichstraßen, da denkt man sich, super, ein Rettungsweg mehr! Aber solche kleine Abkürzungen mittendrin können große Probleme bereiten. Entgegen der landläufigen Meinung und eben sogar der Vorschriften kann ein zusätzlicher Weg, wie bei der Hanse Sail, die Situation gravierend verschlechtern. Das ist kontra-intuitiv und wird nur in der Simulation sichtbar.

[Florian Sesser und Angelika Kneidl (accu:rate)][2]
Hätte eine Simulation dringend nötig: Das Oktoberfest – mit Florian Sesser und Angelika Kneidl (accu:rate)

Wie simuliert man denn konkret Menschenmassen?

Neu ist bei unserer Software das wissenschaftliche Modell dahinter. Wir simulieren den Boden kontinuierlich, das heißt, du kannst jeden Zentimeter betreten. Außerdem wird bei uns jeder Mensch als einzelner Agent dargestellt, kann also frei entscheiden, er möchte zuerst zum Würstelstand, dann zu Bühne Nummer drei, dann auf die Toilette und dann wieder heim. Anderen Systeme folgen einfacheren Regeln und sind typischerweise nur auf Evakuierung ausgerichtet. Wir können aber auch den Normalfall gut, zum Beispiel haben wir für Museen simuliert, wie viele Gruppen von Schülern man in welchen Abständen durch eine Ausstellung leiten kann.

Und welches wissenschaftliche Modell steckt dahinter?

Wir verwenden ein mathematisches Modell von Prof. Dr. Gerta Köster von der Hochschule München. Zentral ist dabei, dass jeder Agent immer versucht, den besten nächsten Schritt zu machen. Es heißt „Optimal Steps Model“ und basiert auf Biomechanik. Wenn ich an einen bestimmten Punkt will, dann setze ich die Schritte geradeaus darauf zu. Wenn, wie hier, die Bank im Weg ist, muss ich ja drum herum, gehe also einen gleich weiten Schritt in einem etwas anderen Winkel… So komme ich Schritt für Schritt an mein Ziel. Es gibt noch andere große Modelle. Das eine ist der Zellularautomat, da befindet jeder Mensch in einem Quadrat mit einem halben Meter Kantenlänge. Er kann nur von Quadrat zu Quadrat gehen, wie auf einem Schachbrett. Das Modell ist sehr schnell, aber ziemlich grob. Einen Kinosaal kann man damit nicht simulieren, da sind die Sitzreihen einfach zu schmal… Ein wieder anderes Modell fußt auf der theoretischen Physik, da werden Menschen wie Teilchen behandelt, wie Elektronen, die von ihrem Ziel angezogen werden und von Wänden oder anderen Menschen abgestoßen. Ein Problem bei diesem sogenannten „Social Force Modell“ ist, dass Leute manchmal nicht stehenbleiben können, sondern zum Beispiel zwischen einer Tür und zwei Wänden hin und her zittern. Für das Ergebnis wäre das egal, aber wenn ich einem Feuerwehrmann so eine Simulation zeige, sagt der zu Recht, das ist nicht realistisch.

Woher bekommt ihr die Daten über die Menschen, die ihr simuliert?

Vom Veranstalter. Wir arbeiten mit Firmen, die Besucher zählen, mit Kameras, mit Laservorhängen oder manuell. Ob zum Beispiel Menschen in Gruppen unterwegs sind, etwa Familien oder Fußballfans in losen, größeren Gruppen, das und weitere Faktoren fragen wir mit einem Fragebogen ab. Wir könnten zum Beispiel Daten von I-C-Anaytics bekommen, einer weiteren Firma aus dem IT:Agenten-Umfeld, die Besucherwege und -mengen im Einzelhandel ermittelt. Natürlich gilt bei uns – wie bei allen Modellen – „shit in shit out“, sprich, wenn du schlechte Daten rein gibst, kommen auch keine verlässlichen Zahlen raus. Die Love Parade wurde sogar simuliert, aber der Veranstalter hatte dafür eine andere Wegeführung angegeben. Die Stelle, an der die Massenpanik ausgebrochen ist, wurde nicht simuliert und es war zudem eine massiv zu geringe Teilnehmerzahl angegeben.

Worauf basieren eure Programme – ist das mit Computerspieletechnik vergleichbar?

Nein, das ist genau das Thema, Computerspiele sehen aus wie echt, das ist aber Scharade. Echt sieht nur mein Blicḱfeld aus, der Rest wird wegoptimiert, die Welt hinter mir, rechts und links von mir. Bei uns geht es nicht um einen realistischen aussehenden Film, sondern darum, Vorhersagen zu treffen, die immer noch näher an die Realität rankommen werden, da sind wir schon jetzt sehr, sehr gut. Konkret nutzen wir Erkenntnisse aus der Wissenschaft, das heißt von Simulationsexperten genauso wie von Psychologie- und Sozialwissenschaftlern, und setzen diese als Software um. Der Kern und auch sonst der größte Teil unserer Software ist in Java entwickelt – aber wir nutzen noch andere Programmiersprachen und Werkzeuge, getreu dem Motto „the best tool for the job“. Und da beißt sich die Katze in den Schwanz: Manchmal kommt das beste Tool eben doch aus der Computerspieletechnik. Zum Beispiel haben wir für die CeBIT eine Virtual-Reality-Visualisierung mit Unity3D, einer Game-Engine, entwickelt.

Überschneidet sich Deine jetzige Arbeit mit der bei den IT:Agenten?

Ich habe bei den IT:Agenten sehr viel gelernt, zum Beispiel, als Full-Stack-Entwickler zu arbeiten, also Backend und Frontend. In meinem Job hier wie dort war und ist es wichtig, immer das ganze System zu betrachten. Außerdem konnte ich bei den IT:Agenten meine Spezialinteressen High Performance und Skalierung gut einbringen – also Systeme so zu bauen, dass sie auch unter hoher Beanspruchung noch funktionieren. Die Technik, die dahinter steht, ist gar nicht so unterschiedlich. Die IT:Agenten machen vordergründig Webanwendungen, dabei ist aber ja das HTML der kleinste Teil. Eigentlich geht es immer darum, ein richtig gutes informationstechnisches System zu programmieren. Damit sind wir bei accu:rate von durchschnittlichen Webfricklern ungefähr genauso weit entfernt, wie die IT:Agenten, da stehen wir auf derselben Seite.